Vernissage „Reflexionen“

Einführung am 09.01.2023 im Max-Planck-Institut Martinsried von Ernst Ströer.

Verehrte Gäste, ich begrüße sie ganz herzlich zur Ausstellung „Reflexionen“ von Hans Karuga hier im Max Planck Institut.

Ich darf sie heute ein Stück weit in die Bilderwelt von Hans Karuga hineinführen. Nicht zu weit, denn die Bilder wollen nicht erklärt werden. Das könnte ich auch gar nicht - mein Metier ist die Musik, also beginne ich mit einer musikalischen Frage: Wie hören wir Musik?

Ein Freund sagt, ich hör immer mit meinem Küchenradio! Gute Antwort. Wie hören wir Musik? Ein anderer Freund sagt: Das kommt ganz auf die Musik an. Gute Antwort. Wenn wirs noch genauer wissen wollen, hilft uns ein Blick auf die Oberfläche. Aber hat Musik überhaupt eine Oberfläche? Bilder haben Oberflächen - aber Musik?

Schauen wir uns ein Beispiel an:

Jemand spielt ein Weihnachtslied auf der Blockflöte. Das haben sie ja vielleicht gerade bei sich zu Hause erlebt. Was hören wir? Wir hören eine Melodie und nur die Melodie. Keine Begleitung. Nichts drunter. Wir hören sozusagen die pure Oberfläche. Reine Melodie, leicht erkennbar. Wir können alle mitsingen, Stille Nacht, wunderbar.

Jetzt stellen wir uns vor, jemand begleitet die Blockflöte auf dem Klavier. Da wird die Sache schon schwieriger. Zwei Instrumente zur gleichen Zeit. Die Oberflächenstruktur ist etwas komplexer. An der Oberfläche die Blockflöte mit der Melodie. Etwas darunter die Klavierbegleitung. Die Rollen sind aber klar verteilt, es gibt eine klare Hierarchie. Die Melodie, die uns gleich ins Ohr geht, und drunter die Begleitung.

Ein entsprechendes Bild wäre die Mona Lisa von da Vinci. Wohin sehen wir, wenn wir das Bild anschauen? Klar, auf das Gesicht, auf das rätselhafte Lächeln. Wir können gar nicht anders, denn unser Blick wird von Da Vinci gelenkt. Die Mona Lisa sieht uns nämlich an, ganz gleich wo wir stehen. Und wir blicken zurück. Das Lächeln ist das so etwas wie das Thema des Bildes, seine Melodie. Es springt uns sofort ins Auge. Die Landschaft im Hintergrund, das Kleid der Mona Lisa, ihre Hände usw. - alles Begleitung. Auch hier eine ganz klare Oberflächenstruktur. Melodie und Begleitung.

  • SZ | Hans Karuga | Wo Licht und Wasser einen Tanz eingehen
  • SZ | Hans Karuga | Wo Licht und Wasser einen Tanz eingehen
  • SZ | Hans Karuga | Wo Licht und Wasser einen Tanz eingehen

Machen wir einen großen Sprung von Da Vinci in die Gegenwart, zur symphonischen Musik. Symphonische Musik bedeutet zuerst mal: Ein Orchester. Mehr als zwanzig verschiedene Instrumente spielen gleichzeitig, mehr als zwanzig verschiedene Klangfarben mischen sich immer neu. Ein richtiger Rausch der Klangfarben. Und wie siehts mit der Oberflächenstruktur aus? Die ist sehr komplex und vielschichtig. Melodien erscheinen mal an der Oberfläche, leicht zu entdecken und mal ganz versteckt in tieferen Ebenen des Klangs.

Melodien werden von Gegenstimmen verschleiert, und ganze Passagen bestehen nur aus Sequenzen, Motivfetzen, schnellen Läufen, Effekten usw. Die Oberflächenstruktur der symphonischen Musik ist also äußerst komplex, vielschichtig und verändert sich auch noch von Sekunde zu Sekunde. Und in der zeitgenössischen symphonischen Musik, der Neuen Musik, finden wir kaum noch Themen oder Melodien. Die Musik erscheint zunehmend abstrakt, fremd und rätselhaft. Die Oberfläche scheint sich aufgelöst zu haben - es gibt nur noch die tieferen Schichten.

Was wären die nun entsprechenden Bilder zur symphonischen Musik? Sie ahnens vielleicht schon, für mich sind es sind die Fotografien von Hans Karuga. Warum? Zuerst, schauen sie sich um, erleben wir einen richtigen Rausch der Farben, die ganze Palette der Natur, hochfein ausdifferenziert, mal messerscharf, mal verschwommen. Ein Rausch - nicht der Klangfarben - aber der Farben. Und die Oberflächenstruktur? Ist sehr komplex und vielschichtig!

Vor einigen Bildern können wir lange stehen und uns fragen: Was sehen wir da eigentlich? Den Himmel oder nur die Spiegelung des Himmels? Dinge auf der Wasseroberfläche oder drunter? Und wie viele Oberflächen sehen wir da eigentlich? Was ist Thema, was Begleitung? Unser Blick wird nicht gelenkt, er kann frei durch die vielen Bildebenen streifen und sich darin verlieren. Und schließlich wirken einige Bilder so abstrakt, dass man sie gar nicht der Natur zuordnen würde. Wir sehen Zeichen einer unbekannten Schrift, vielleicht verborgene Botschaften, die wir nicht entziffern können? Die Bilder geben uns Rätsel auf, wir sehen sie mit jedem Blick neu.

Die Bilder sind symphonisch, weil die Natur symphonisch ist. Oder genauer: Die Fotografien von Hans Karuga zeigen uns, wie symphonisch die Natur sein kann.